Walliserbote, 7. Februar 2007, Alois Grichtin

Carlen-Orgel Reckingen: Ein Erlebnis!

Für Sie (heraus-) gehört

Mit einem Konzert auf der um 1746 von Mathäus Carlen erbauten herrlichen Orgel der Kirche Reckingen begann am vergangenen Donnerstag die Berner Organistin Annerös Hulliger, Bolligen, einen Zyklus Orgelkonzerte im Goms. Frau Hulliger wird noch in der Kirche Obergesteln (8. Februar, 16.30 und 20.30 Uhr) und in der Kirche Ernen (11. Februar, 16.50 und 20.30 Uhr) unter der Aufschrift "Concerto grosso - alla maniera italiana" weitere, sehr empfehlenswert Konzerte spielen. Ausserdem wird sie im kommenden Frühling, 23. bis 30. Juni 2007, eine sehr interessante Orgelwoche im Goms (Orgeln Binn bis Oberwald) leiten.

Das von einem zahlreichen Publikum besuchte Konzert in der Kirche Reckingen, einem Kleinod des Gommer Barocks, wurde zu einem musikalischen und künstlerischen Gesamterlebnis der besonderen Art. Die Musik und die von der Sonne beschienenen vergoldeten Barock- und Rokokoaltäre bildeten in einer einmaligen Atmosphäre eine wunderbare Einheit: Frau Hulliger hatte für dieses Konzert Werke gewählt, die ebenfalls der Barockzeit zugeordnet werden, nämlich Thomas Billingtons (1754-1832) Bearbeitungen von Concerti grossi Arcangelo Corellis sowie Werke des Meisters aller Orgelmeister, Johann Sebastian Bachs. Auch er war, wie Frau Hulliger in ihrer aufschlussreichen Einführung in das Programm den Anwesenden darlegte, von der italienischen Musik seiner Zeit fasziniert. Dass sich die Orgel Reckingen, Musterbeispiel der alpenländischen Orgelkultur, für diese Musik eignet, wurde dann in ihrem Spiel überdeutlich.


Concerti grossi

Die Beliebtheit des Concerto grosso in England soll, wie Frau Hulliger in ihren Kommentaren ausführte, Thomas Billington im 18. Jahrhundert zu auf der Orgel spielbaren "Arrangements" oder "Reduktionen" dieser Concerti veranlasst haben. Die im Falle von opus 6 des italienischen Komponisten Arcangelo Corelli (1653-1713) entstandenen Bearbeitungen von Concerto Nr. 10 und Nr. 12 enthalten Stücke mit den Tempobezeichnungen Allegro, Adagio usw. aber auch Mischbezeichnungen mit den Namen alter Suitentänze und "modernen" Tempi, etwa Allegro (Allemande), Vicace (Sarabande), Allegro (Gigue), Vivace (Corrente = Courante), Minuetto (Vivace, Menuet) und andere. Frau Hulliger, die mit ihren heute 15 CD-Ausgaben von Orgelmusik auf historischen Orgeln als Spezialistin dieser Barockmusik gilt, gaben diese Concerti Gelegenheit, die Möglichkeiten der mit einer verkürzten Oktav ausgestatteten Carlen-Orgel voll zur Geltung zu bringen. Man konnte sehr transparentes, "spitzes" Spiel mit wenigen Stimmen, eine dynamische Mittelstufe unter Verwendung der Mixturen und des Prinzipals und ein volles Werk mit Trompeten usw. feststellen: All dies in grosser Leuchtkraft. Andererseits erlaubt das seinerzeit durch Hans Füglister, Grimisuat, restaurierte Instrument z.B. auch Abdunkelung im Moll-Bereich. Frau Hulliger spielte die erwähnten Werke mit technischer Perfektion, ausgesuchter und faszinierender Registrierung, grosser Präzision, vor allem aber mit einer wunderbaren Phrasierung, die dem Zuhörer auch Atem lässt. Dieser exklusive "Puls" macht ihr Spiel anziehend, wohlstrukturiert und klar.

Und Bach

Es ist schon erstaunlich, dass und wie Johann Sebastian Bach die italienische Musik studierte und daraus offenbar lernte. Seine "Gedanken" dazu kamen bereits im ersten Bachwerk des Reckinger Konzertes zur Geltung, in der "Aria variata alla maniera italiana", einem Thema mit 10 Variationen (Bach- Werkverzeichnis 989). Auch in diesem weniger als etwa die berühmten "Goldberg-Variationen" bekannten Werk 989 hatte man Grund, zu staunen. Auch hier wurden die Qualitäten der Organistin Hulliger im angedeuteten Sinne ebenso sichtbar wie im Concerto F-Dur nach Antonio Vivaldi (dessen opus 3, Nr. 4), das Bach im dreisätzigen "Vivaldi-Stil" (Allegro-Largo-Allegro) auf die Orgel übertrug (BWV 978). Es ist schon rührend, zu sehen und zu hören, wie sie sich ein Meister über das Schaffen eines anderen Genies beugt. Ganz Bach, seine Sprache, seine strenge Satzkunst, sein Vertrauen und seine Zuversicht atmete die "Canzona" d-Moll (BWV 588) - ein Zeugnis grosser seelischer Tiefe. Die Canzona beginnt mit einem Fugato, ohne in eine grosse Fuge überzugehen, und nimmt den Hörer in einen zweiten, in lockerer kontrapunktischer Technik gehaltenen Teil mit - in ein Stück Vollkommenheit und Frieden. Was will man mehr? So schloss ein zu Recht applaudiertes, hochstehendes Konzert einer Organistin von Format auf einem ausserordentlichen Instrument - auf das wir alle stolz sein dürfen. (ag.)

Foto:
Sie spielte auf der Orgel Reckingen Musiken von Bach und Corelli, Musiken als "Zwischenhalt" für Langläufer, Wanderer, aber auch für Musikfreunde und Musikgeniesser: Organistin Annerös Hulliger.